⋄ Der Protest in Lützerath war einer der wichtigsten Kämpfe der Umweltbewegung in den vergangenen Jahren und hat landesweit die Solidarität der Linken hervorgerufen. ⋄ Andrea Furnaro zeichnete die Geschichte des Kohleabbaus in Deutschland nach und verband diese mit dem Marxschen Begriff des moralischen Verschleißes. ⋄ Unter moralischem Verschleiß ist die Entwertung von Produktionsmitteln zu verstehen, wenn sie technisch überholt sind. ⋄ Furnaro erweitert die Marxsche Darstellung auf das zirkulierende Kapital und stellt den moralischen Verschleiß nicht nur als technischen, sondern auch politischen Prozess dar. ⋄ Zum moralischen Verschleiß der Kohle in Deutschland trugen nicht nur die Umweltbewegung, sondern auch konkurrierende Energieträger und EU-Wettbewerbsgesetze bei. |
Wir alle haben die Bilder der zweiten Januarwoche noch im Gedächtnis. Ein Großaufgebot der Polizei. Verschanzte Demonstranten. Die Schlacht im Schlamm vor riesigen Schaufelradbaggern, die einer victorianischen Steam-Punk-Fantasy entsprungen zu sein schienen. Die Räumung von Lützerath für die Interessen von RWE hat in der gesamten Linken Solidarität geweckt. Die Grünen scheiden als Bündnispartner der Umweltbewegung immer mehr aus.
Sozialistische Gruppen sehen im brutalen Vorgehen der Polizei die Verteidigung der Interessen des Kapitals durch den Staat. Die Analyse ist nicht falsch. Sie ist in ihrer Pauschalität aber zu beliebig, um Erkenntnisse zu gewinnen. Der Staat hängt vom “Wirtschaftswachstum”, sprich Profiten, exisitenziell ab. Aber warum verteidigt er nicht die Interessen von Windkraftanlagen und warum investiert das Kapital lieber in Kohle statt in Solarananlagen?
Die Politikanalystin und Forscherin am Center for Sustainable Energy Systems (ZNES) der Europa-Universität in Flensburg, Andrea Furnaro, hat den Kohleausstieg im Kontext des Marxschen Begriffs des moralischen Verschleißes untersucht. Diese Analyse eröffnet nicht nur eine neue Perspektive auf auf den Kampf um den Kohleausstieg, sondern auch auf den Begriff des moralischen Verchleißes von Marx.
Exkurs: moralischer Verschleiß bei Karl Marx
In der gängigen Literatur wird der moralische Verschleiß von Produktionsmitteln kaum problematisiert. Im Wesentlichen bezieht man sich auf folgende Stelle aus dem Kapital:
“Neben dem materiellen unterliegt die Maschine aber auch einem sozusagen moralischen Verschließ. Sie verliert Tauschwert im Maße, worin entweder Maschinen derselben Konstruktion wohlfeiler reproduziert werden können oder beßre Maschinen konkurrierend neben sie treten. In beiden Fällen ist ihr Wert, so jung und lebenskräftig sie sonst noch sein mag, nicht mehr bestimmt durch die tatsächlich in ihr selbst vergegenständlichte, sondern durch die zu ihrer eignen Reproduktion oder zur Reproduktion der beßren Maschine notwendige Arbeitszeit. Sie ist daher mehr oder minder entwertet. Je kürzer die Periode, worin ihr Gesamtwert reproduziert wird, desto geringer die Gefahr des moralischen Verschleißes, und je länger der Arbeitstag, um so kürzer jene Periode.”
Marx, K., MEW 23, S.426f.
Marx möchte hier eigentlich darauf hinaus, warum der Kapitalist beständig versucht, seine Maschinerie zu erneuern und doch der Arbeitstag der Proletarier*innen immer länger wird. Daher ist der Begriff des moralischen Verschleißes kaum tiefgehend diskutiert worden. Es wurde meist unter technischen Aspekten betrachtet. Maschinen können auf verschiedene Arten moralisch verschleißen. So können neue Maschinen auf den Markt kommen, die eine Ware in kürzerer Zeit herstellen, sodass diese günstiger angeboten werden kann. Oder es könnten verbesserte Waren hergestellt werden, sodass die alten nicht mehr gekauft werden. Auch Profite können moralisch erschleißen, wenn sinkender Profitrate von vorneherein klar ist, dass ein großer Teil der Profite sofort in neue Herstellungsverfahren investiert werden muss, um sich einen Vorsprung vor der Konkurrenz zu sichern. In allen Fällen kann die Maschine nicht mehr den von in ihr vergegenständlichten Wert an die Waren übertragen.
Die Erweiterung des Begriffs des moralischen Verschleißes
Die Neuerung, die Andrea Furnaro in ihre Betrachtung mit einfließen lässt, ist doppelter Natur. Während Marx den Begriff nur in Hinsicht auf das fixe Kapital verwendet, erweitert sie ihn auch auf das zirkulierende. Der Unterschied zum fixen ist heir eigentlich nur, dass das zirkulierende Kapital stärken periodischen Wertschwankungen ausgesetzt ist. Und zweitens beschreibt sie den moralischen Verschleiß auch als ein politisches Problem. Das erinnert uns nur daran, dass es nach Marx keine automatische Bewegung der Ökonomie gibt, sondern dass alle ökonomischen Prozesse durch das Verhältnis der Menschen und Klassen zueinander bestimmt sind. Diese bisherige rein technische Betrachtung beschreibt die kapitalistische Klassengesellschaft nur für einzelne Räume und Sektoren. Weltweit entwickelt sich der moralische Verschleiß jedoch ganz unterschiedlich. Eine Maschine, die in Deutschland nicht mehr konkurrenzfähig produzieren könnte, wäre in Südamerika dazu vielleicht noch in der Lage. Und wie der Inhalt aller Moral im Kapitalismus umkämpft ist, so ist es auch der moralische Verschleiß ein Aspekt des Klassenkampfes.
Um es allgemeiner zu formulieren: Jede Maschine saugt menschliche Arbeit auf, um sie in Mehrwert zu verwandeln. Die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft findet ihre Grenze aber im allgemeinen kulturellen Niveau einer Gesellschaft. Eine Maschine, die nur mit Kinderhänden betrieben werden könnte, wäre in Deutschland auf Grund des Verbots von Kinderarbeit wertlos, egal wieviel Profit sie verspricht. Auch wenn dieses Beispiel weit hergeholt ist. Es gibt naheliegende. Ein Energieträger, der erwiesenermaßen die natürliche Lebensgrundlage der Menschheit schädigt, durch Luftverschmutzung ganz akut Schäden verursacht und viele Flächen, ja sogar ganze Dörfer, verschlingt … ein solcher Energieträger kann moralisch verschleißen.
Der moralische Verschleiß der Kohle
Andrea Furnaro zeichnet nun ganz konkret nach, dass der moralische Verschleiß der Kohle sowohl ein ökonomischer als auch ein politischer Prozess ist. In diesem Prozess kämpfen verschiedene Akteure um die Deutungshoheit.
Gerade in Deutschland als rohstoffarmer Region kam der Kohle während der Zeit der Industrialisierung eine große Bedeutung zu. Rund um die Kohlebecken an Rhein und Ruhr, in Mitteldeutschland oder an der Saar entstanden die großen Industriezentren, die Arbeiter*innen in die Städte sogen. Kohle war Grundlage für die Stahlproduktion, einem der deutschen Leitsektoren des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, und lange Zeit der wichtigste primäre Energieträger. Während der beiden Weltkriege wurde die Kohleproduktion durch die enorme staatliche Nachfrage zusätzlich vergoldet, auch wenn die mobile Kriegsführung des Zweiten Weltkrieges erste Anzeichen zum Bedeutungsverlust erkennen ließ. Ihren letzten großen Auftritt hatte die Steinkohle zu Beginn des europäischen Einigungsprozesses, als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl die französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion besser koordinieren wollte, um künftige Kriege zu verhindern. Auf Grund der schnellen wirtschaftlichen Erholung, die sich in einem steigenden Konsumgütersektor niederschlug und der Integration in die imperialistischen Handelsstrukuren löste das Öl die Kohle in Westdeutschland zunehmend als Energieträger ab. Öl kam aus Niedriglohnländern und war für die kommenden Mobilitätsansprüche besser geeignet. Seit 1967 ist der Kohleabbau in Nordrheinwestfalen und im Saarland nur noch mit staatlichen Subventionen profitabel. In der DDR hingegen, wo der Zugang zu billigen ausländischen Ressourcen beschränkt war, bildete die Braunkohle das Rückgrat der Energieversorgung. Die Angliederung an die BRD überstand ein großer Teil der dortigen Industrie und des Kohleabbaus jedoch nicht.
Die treibenden Kräfte des moralischen Verschleißes
Mit der seit den 80er Jahren debattierten Energiewende erhielt die Kohle einen Status als Brückentechnologie, die einen Übergang zu einer Energieversorgung aus erneuerbaren Trägern ohne Nuklearanlagen ermöglichen sollte. Mittlerweile haben Bundestag und Bundesrat den Ausstieg aus der Kohleverstromung auf das Jahr 2038 datiert. Die zeitliche und strategische Beschränkung stellt daher einen ersten Schritt des moralischen Verschleißes dar. Doch nicht nur nationale Entscheidungen waren relevant. Das EU-Wettbewerbsrecht ließ schon lange die Subventionspraxis einiger Bundesländer nicht mehr zu, was die Bereiche unprofitabel machte. Danneben besaß Öl die bereits genannten Vorteile gegenüber der Kohle und insbesondere in der Strom- und Wärmeproduktion machte auch der Rückgriff aus billiges russisches Erdgas Kohleverstromung nicht mehr konkurrenzfähig. Zuletzt hat die Umweltbewegung, sowohl in ihrer medialen als auch in ihrer militanten Form zum moralischen Verschleiß der Kohle beigetragen. Sabotage oder ähnlicher Widerstand seien jedoch sowohl quantitativ eher gering und nicht unmittelbar zum moralischen Verschleiß zu zählen. Allerdings half zum Beispiel die Gegenwehr im Falle des Hambacher Forstes, die politischen Kosten für die Entscheidungsträger zu erhöhen und so Beschlüsse zu Gunsten der Kohleindustrie zu erschweren.
Die Gegenkräfte
Allerdings haben sich auch Gegenkräfte organisiert, die den Wertverfall ihrer Produktionsmittel nicht so einfach hinnehmen wollen. Die Energiebranche hat seit den 1950ern eine ausgiebige Lobbytätigkeit entwickelt, die sie anlassbezogen mit führenden Politikern, der energieintensiven Industrie und Gewerkschaften koordiniert. Und diese Lobby besitzt ein gewichtiges Argument. Seit der europäischen Integration des Energiemarktes ist Deutschland seit 2003 Stromexporteur und seit 2009 der größte der Welt. Dieser Export war vor allen Dingen durch die günstige Braunkohleverstromung möglich.
Besonders bedeutsam ist der lokale Bezug des Lobbyismus. Da der Kohleabbau ein kapital- und arbeitsintensives Geschäft ist, sind ganze Regionen direkt oder indirekt in die Produktion eingebunden. Arbeitsplätze und Steuerzahlungen hängen von den Großkonzerne ab. Sozio-ökonomische Transformationsprozesse lassen sich oft nur langfristig, mit großen Mühen, unvermeidbaren Risiken und Biographiebrüchen realisieren. Während in Wetstdeutschland die Kohleindustrie vergleichsweise langsam abgewickelt wurde und den Beteiligten viel Anerkennung beim Wiederaufbau der Bundesrepublik zuteil wurde, stampfte man die Kohle in Ostdeutschland sprunghafter ein. Auch wenn die AfD die Klaviatur des Widerstandes gegen die ökologische Wende in der Lausitz am lautesten spielt, inhaltlich gingen SPD und CDU eine Koalition mit ihr bei der Verteidigung des Kohleabbaus und der Verurteilung des Aktivismus z.B. von Ende Gelände ein. Der Ort dieser politischen Auseinandersetzung ist im wesentlichen die Länderebene, wo die Regierung der kohlefördernden Länder gegen die Beschlüsse der Bundesregierung opponieren oder aus der Staatskasse Kompensationen auszuhandeln suchen.
Die politischen Kräfte, die hinter dem oder gegen den moralischen Verschleiß der Kohle stehen, gehen also nicht in Kapital und Arbeit auf. Vielmehr übersetzt sich der moralische Verschleiß, den die Kohle gegenüber Öl, Gas und erneuerbaren Energien auf der technischen Seite zu verzeichnen hatte, in den Kampf durchmischter sozialer Formationen. Die Engpässe auf dem Erdgasmarkt wirken momentan als konjunkterelle Aufwertung der Kohle, wenn die Dauer auch ungewiss ist.
Zusammenfassung
Große Teile der marxistischen Literatur haben den moralischen Verschleiß wie ein Naturschicksal behandelt, wie einen kleinen Dreckeffekt des technischen Fortschritts, dem sich das Kapital ohne Gegenwehr fügt. Damit hat sie die Tiefe der Kritik von Karl Marx unterschätzt. Die Bourgeoisie schreibt keine Investitionen ab, ohne wenigstens darum gekämpft zu haben. Und wenn sie sich schon den Gesetzen der Konkurrenz – Stichwort Warenfetisch – schutzlos ausgeliefert fühlt; die Gesetze des Staates sind formbar. Die Grenzen des kulturellen Niveaus der Arbeiter*innenklasse sind ein Ergebnis des Klassenkampfes und RWE ist auf dem Bereich der Kohle bereit, ihn zu führen.
Mit dem Verweis auf den moralischen Verschleiß hat Andrea Furnaro einen sehr originellen Drehpunkt zwischen dem Marxschen Kapital und den aktuellen Kämpfen gegen die Kohleverstromung aufgezeigt.
Man könnte sich vielleicht ein paar Worte mehr zum Bezug auf die Marxsche Konzeption wünschen. Aber eigentlich reicht das knapp Gesagte völlig aus. Die stimmige Erzählung von Ereignissen und Akteuren ist in ihrer Konkretheit weit wertvoller.
Hilft einem nun diese Einrodnung hinsichtlich der Kämpfe in Lützerath? Ja, insofern man sie die Rolle des Widerstandes bewusst macht. Die Verteidigung Lützeraths war wichtig, um die politischen Kosten einer weiteren Fortsetzung des Kohleabbaus glaubhaft zu machen, auch wenn eine direkte Verhinderung utopisch war. Der eigentliche Wert liegt in der als Munition für kommende Schlachten. Und die werden um die Köpfe ausgetragen. Der Staat setzt nicht per se die Interessen eines Konzerns durch, sondern als ideeller Gesamtkapitalistist wahrt er sein Gewaltmonopol und die Gültigkeit seiner Beschlüsse. Diese wiederum sind das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen. Die Schlacht um Lützerath ist daher noch lange nicht beendet, denn das Entscheidende ist der Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse. Nur wenn dieser gewonnen wird, kann man den moralischen Verschleiß der Kohle weiter befördern. Und den Krieg gewinnen.
Literatur:
Furnaro, A. (2022): Geographies of devaluation: Spatialities of the German coal exit. In: EPA. Economy and Space. Online only. DOI: 10.1177/0308518X221148731.