⋄ Die Dezember-Ausgabe der International Critical Thought widmete sich dem Thema Konkreter Marxismus. ⋄ In einem Eingangsartikel versuchten sich die beiden Autoren Antonis Balasopoulos und Roland Boer an einer Rettung des Dengismus, also der wirtschaftlichen Öffnung Chinas. ⋄ Sie argumentieren, dass die Phasen bisheriger sozialistischer Versuche zu unterschiedlich seien, um sie an einem anderen Maßstab als den historischen Bedingungen messen zu können. ⋄ Weiterhin bestehe eine Dialektik zwischen Freiheit und Notwendigkeit, nach der die marktwirtschaftlichen Zwänge der chinesischen Politik auch neue Freiheiten gegeben habe. ⋄ Zuletzt unterscheide sich eine post- von einer vorrevolutionären Situation, wie bereits Lenin 1923 feststellte. |
Die beiden hochtrabenden Wörter abstrakt und konkret bedeuten eigentlich nicht viel. Betrachte ich etwas konkret, dann nehme ich mehr Bestimmungen dazu, abstrakt sehe ich von einigen ab. Und doch umgibt die beiden Worte gerade in der politischen Diskussion eine besondere Aura. Abstrakte Debatten scheinen nichts mit der Wirklichkeit zu tun zu haben. Die Anschaulichkeit fehlt. Mit philosophischen Taschenspielertricks kann noch der größte Verrat als revolutionäre Tat verkauft werden. Das Konkrete scheint das Wahre und Lenin kann als Kronzeuge herhalten. Konkrete Analysen. Konkrete Politik vor Ort für echte Menschen. Wer kann da schon was dagegen sagen.
Aber wenn das Konkrete mal konkret wird, ist der Streit nicht weit. Während die meisten Marxist*innen eine Analyse der abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse teilen, ist man sich schnell über die Anwendung auf reale Problemstellungen uneinig. Richtig wild wird es, wenn es dann noch um den Sozialismus geht, wo man sich nicht mal mehr auf O-Töne von Marx stützen kann. Die International Critical Thought fragte in seiner Dezember-Ausgabe nach dem Marxismus in seiner konkreten Form. In mehreren Artikeln sollte das Spannungsverhältnis zwischen abstraktem und konkretem Marxismus ausgelotet werden. Den Auftakt machten der Utopieforscher Antonis Balasopoulos aus Zypern und der marxistische Calvinist Roland Boer, Professor an der Schule des Marxismus der Technischen Universität Dalians in China, mit einer undankbaren Aufgabe. Sie verteidigten den Dengismus. Ganz konkret.
Die Grundthese
Die Frage, was denn überhaupt den abstrakten vom konkreten Marxismus unterscheide, beantwortete Mao einst sehr prägnant im Jahre 1938, also einer wichtigne formativen Phase in der Herausbildung der chinesischen Kommunistischen Partei:
“So etwas wie einen abstrakten Marxismus gibt es nicht, nur konkreten Marxismus. Was wir konkreten Marxismus nennen, ist ein Marxismus in seiner nationalen Form, ein Marxismus, der auf den konkreten Kampf unter den konkreten Bedingungen in China angewandt wird und kein abstrakt genutzter Marxismus. Wenn ein chinesischer Kommunist, der Teil des großen chinesischen Volkes ist, der mit Fleisch und Blut mit diesem Volk verbunden ist, vom Marxismus jenseits der chinesischen Besonderheiten spricht, dann ist das nichts weiter als eine leere Abstraktion. Konsequent wird die Sinisierung des Marxismus, die beständige Feststellung, dass er in all seinen Erscheinungsformen in die chinesischen Charakteristika integriert ist und auf die chinesischen Besonderheiten angewandt wird, ein Problem, dass in der Partei verstanden und ohne Verzögerung gelöst werden muss.”
Mao, 1938, eigene Übersetzung nach Artikel, S.502.
Was auf dem Tisch liegt, ist also die Behauptung, dass es so etwas wie einen abstrakten Marxismus garnicht gäbe. Man könne keine losgelöst von den realen Klassenkämpfen gültige Definition bilden, an Hand derer sich die einzelnen nationalen sozialistischen Bewegungen am Grad ihrer Übereinstimmungmessen ließen.
Eine etwas kürzere Form wählte Xi Jinping. Er sagte 2013 “Nur der Träger weiß, ob die Schuhe passen.” Er stellt also zur Disposition, was ein abstrakter Marxismus irgendjemanden bringen könne, wenn er sich konkret nur sehr schwer umsetzen ließe. Diese Herangehensweise erscheint zwar äußerst praktisch. Die Gegenfrage lautet jedoch: Was haben der chinesische , der sowjetische, der westliche und jeder andere konkrete Sozialismus gemeinsam, dass sie sich alle mit dem Wort Sozialismus beschreiben lassen? Muss es nicht doch eine allen inhärente Gemeinsamkeit geben? Öffnet sich nicht sonst das Tor zur Beliebigkeit?
Gerade der Dengismus, also die Öffnung des chinesischen Marktes für ausländische Unternehmen und die Zulassung der Bildung einer neuen Kapitalistenklasse in China, besitzt den Ruf, mit dem Sozialismus nicht gemeinsam zu haben. Boer und Balasopoulos versuchen nun an Hand von drei Argumenten eine Fürrede für den Sozialismus mit chinesischer Charakteristik zu halten.
1. Argument: Phasen des Sozialismus
Der Dengismus kann nicht losgelöst von der gesamten historischen Entwicklung der Volksrepublik betrachtet werden. Zunächst gab es über einen realtiv langen Zeitraum in China mehrere rote Zentren, z.B. Yanan, von denen aus der Bürgerkrieg vorbereitet wurde. Ab 1949 wurde die Kollektivierung für zwei Jahrzehnte sprunghaft vorangetrieben. Zwischen 1966 und 1976 bestimmte die Kulturrevolution den sozialistischen Aufbau in China. Ab 1978 wurde die Marktöffnung Chinas zur Entwicklung der Produktionsmittel eingeleitet. Und seit etwa 2010 versucht China, mit Hilfe der schrittweisen Hebung der Konsumgüterversorgung und Orientierung auf vom Westen autarke Strukturen die marktwirtschaftliche Entwicklung zu steuern und einzugrenzen. Die Kritik an Deng Xiaoping müsste erst einmal klären, ob sie alle, einige oder garkeine der Phasen als sozialistisch ansehen würde, woran sie dies misst und wie sie die Zusammenhänge zwischen den Phasen erklären würden.
Roland Boer erinnerte in der Debatte an Domenico Losurdo, der in “Hat sich China dem Kapitalismus zugewandt?”, die Frage stellte, wie man die frühe Entwicklung der Sowjetunion bewerte. Diese sei geprägt gewesen vom Kriegskommunismus während der Gründungsjahre und der Hoffnung auf die Weltrevolution, der Neuen Ökonomischen Politik zum Ausgleich mit der Bauernschaft und der sprunghaften Industrialisierung unter Stalin. Losurdo argumentierte, dass man hierzu drei Positionen vertreten könne. Man könnte alle drei als Phasen des Sozialismus verwerfen. Dies entspreche der linksradikalen und anarchistischen Kritik. Man könne einzelne Phasen als sozialistisch ansehen und andere wiederum nicht, wie es beipielsweise der Trotzkismus tut. Oder man erkennt in jeder Phase die den konkreten Entwicklungsbedingungen eigene Rationalität an. Nur die letzte Position würde es vermeiden, den realen Sozialismus an einem imaginären Schema zu messen. Boer schlussfolgerte aus der Marxschen Feststellung, dass das Reich der Freiheit auf dem Reich der Notwendigkeit aufbaue, dass man auf China angewandt sagen müsse, dass sich ein chinesischer Sozialismus eben nicht auf geteilter Armut aufbauen ließe und die ökonomische Öffnung zum Weltmarkt daher eine Notwendigkeit gewesen sei. Die scharfe Kritik an Deng Xiaoping als “Wegbereiter des Kapitalismus” stamme nicht von Mao selbst, sondern sei durch französische Marxist*innen populär gemacht worden, die sich nach dem gescheiterten Mai 1968 in der Kulturrevolution eine ideologische Heimat suchten und deren idealistische Hoffnungen zu Hause und in China an der Realität gescheitert seien. Der durch Mao verkörperte Messianismus habe auch nach dem Teufel verlangt, den die französischen Intellektuellen in Deng zu erkennen glaubten. Solches schismatisches Denken hätten auch die Trotzkist*innen, die ihren Stalin bräuchten oder die liberalen Marxist*innen, die sich von Engels abgrenzten.
2. Argument: Freiheit und Notwendigkeit
Das zweite Argument ist die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit. Gerade der französische Marxismus neige dazu, den großen Sprung nach vorn unter Mao als Ausdruck der Freiheit zu interpretieren, während Deng durch die Marktöffnung China neue kapitalistische Zwänge auferlegt habe. Diese Lesart greife jedoch zu kurz. Vielmehr seien die voluntaristischen Exzesse des Großen Sprung nach Vorn oder der Kulturrevolution, die mit massiver Gewaltanwendung verbunden waren, eine Verzweiflungstat angesichts der Probleme gewesen, die Bevölkerung zu versorgen und die Produktivkräfte zu entwickeln. Nichts schaffe mehr Zwang als die Notwendigkeit, alle Reserven zur Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse mobilisieren zu müssen. Man mag die heutige Politik Chinas kritisieren und sie nicht für revolutionär genug halten. Es ist aber Fakt, dass China immerhin momentan die Freiheit besitzt, Schritte vor oder zurück zu gehen, ohne durch Beschneidung der materiellen Versorgung Verteilungskonflikte zu provozieren. Dieses neue Reich der Freiheit ist Resultat der Notwendigkeiten, die Deng seit 1978 eingegangen sei. Auf der dritten Plenarsitzung des achten Zentralkomitees fasste Deng seine Politik wie folgt zusammen:
“Revolutionärer Geist ist ein Schatz, der seinen Preis hat. Ohne ihn gäbe es keine revolutionäre Tat. Aber die Revolution findet auf der Basis der Verbesserung der materiellen Versorgung statt. Es wäre reiner Idealismus, im Namen dieses Geistes Opfer ohne materielle Verbesserungen zu verlangen.”
Deng, 1978, eigene Übersetzung nach Artikel, S.511.
Die Frage, die hier aufgeworfen wird, ist, ob man von einem Milliardenvolk, von Menschen, die ihre Familie ernähren müssen oder ihre Freude nicht allein in der Arbeit finden, permanente Opferbereitschaft verlangen kann, ohne sie letztendlich gewaltsam erzwingen zu müssen. Das Bild des sich selbst im Kampf aufopfernden Volkes mag für die westliche*n Beobachter*in ein Bedürfnis nach Heroismus erfüllen. Für die Protagonist*innen bedeutet es Entsagung von Freuden und die Hinnahme von Nöten, die nicht sein müssten.
3. Argument: Vor ist nicht nach der Revolution
Es gibt einen dritten interessanten Punkt, den die Autoren stark machen. Er basiert auf der Leninschen Spätschrift “Lieber weniger, aber besser” (LW 33). Lenin zieht hier, ein Jahr vor seinem Tod eine ernüchternde, ja geradezu grimmige, Bilanz über den sozialistischen Aufbau in Russland.
“Doch hat uns das erste Jahrfünft gehörig mit Mißtrauen und Skeptizismus erfüllt. Wir sind unwillkürlich geneigt, uns mit dieser Eigenschaft gegenüber denen zu wappnen, die sich allzuviel und allzuleicht in Reden beispielsweise über „proletarische Kultur“ ergehen: Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche Kultur genügen, für den Anfang sollte es uns genügen, wenn wir ohne die besonders ausgeprägten Typen vorbürgerlicher Kultur auskommen, d. h. der Beamten- oder der Leibeigenschaftskultur usw.”
Lenin, 1923, LW 33, S.474.
Gegenüber was wurden die Bolschewiki nach Lenin mit Misstrauen und Skepsis erfüllt? Nach Balasopoulos und Boer seien es der revolutionäre Voluntarismus und der Ersatz von Kompetenz durch möglichst radikales Auftreten. Der Lenin, der noch wenige Jahre zuvor in Staat und Revolution selbst die revolutionäre Ungeduld geweckt hat, fordert mehr Bürgerlichkeit und eine Abkehr vom Proletkult? Was war geschehen? Ganz einfach. Eine Revolution hat stattgefunden. Bürgerlichkeit vor und nach einer Revolution seien nach Lenin ganz unterschiedliche Dinge. Eine Revolution sei sogar vielmehr dazu geeignet, den universellen Gehalt der Bürgerlichkeit freizulegen, welcher durch die innere Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsform verschüttet gewesen sei. Die Kapazität der Produktion oder die Opferbereitschaft des Proletariats in Ungeduld zu überschätzen, erweise sich in einer Planwirtschaft als Dummheit. Lenin erkannte, dass Tugenden wie Sorgfalt und Berechenbarkeit, die zu Zarenzeiten für progressive Politik eher hindernd wirkten, nach den Wirren des Umbruchs eine Notwendigkeit wurden. Balasopoulos liest den Leninschen Text in der Tradition der Marxschen Ausführungen im 18. Brumaire:
“Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsündflutlichen Kolosse und mit ihnen das wieder auferstandene Römertum […]. Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer nüchternen Wirklichkeit hatte sich ihre wahren Dolmetscher und Sprachführer erzeugt […], ihre wirklichen Heerführer saßen hinter dem Kontortisch, und der Speckkopf Ludwigs XVIII.”
Marx: Die 18. Brumaire, MEW 8, S.116.
Auch hier finde sich das Motiv. Eine gesellschaftliches Phänomen kann vor und nach der Revolution einen unterschiedenen Charakter haben. Die Verbindung zu Deng lässt sich darin finden, dass die Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen zur Hebung des Lebensstandards einen völlig anderen Charakter besitzen können, als marktwirtschaftliche Prinzipien in einer bürgerlichen Gesellschaft.
Zusammenfassung
Balasopoulos und Boer zeigen, dass man den Dengismus mit elaborierten Argumenten verteidigen kann. Die eigentlich Frage ist: Sollte man dies auch tun? Die Antwort hängt vom Zweck der Frage ab. Möchte man den chinesischen Weg seit 1978 verstehen, ohne an der Kategorie des Verrats zu kleben wie die Fliege am Marmeladenbrot, dann sollte man sich ernsthaft mit den Gründen für die wirtschaftliche Öffnung der Volksrepublik und die Etablierung einer neuen Bourgeoisie unter veränderten Machtverhältnissen beschäftigen. Möchte man einen Leitfaden für das eigene politische Profil ableiten, dann eignet sich der Dengismus denkbar schlecht. Eine kommunistische Partei in Deutschland muss den Bedingungen eines entwickelten imperialistischen Staates Rechnung tragen. Eine nachholende Industrialisierung, der Kampf gegen neokolonialistische Strukturen, die Abschaffung akuter Armut … all das steht hierzulande nicht auf dem Programm. Zum Glück nicht. Daher kann die Politik einer kommunistischen Partei in China eben nicht die gleiche sein, wie die einer deutschen. Man kann der KP Chinas aber dennoch den entsprechenden Respekt, im Angesicht der überwältigenden Aufgaben, nicht das Handtuch geworfen zu haben, entgegenbringen. Das heißt nicht, den Entwicklungen kritiklos oder opportunistisch gegenüberzustehen, gerade dort, wo sie auch das Proletariat dritter Länder betrifft. Es heißt nur, sich Rechenschaft darüber abzulegen, woran man die Politik der KP Chinas misst: an einem für alle Welt und Zeit gültigen Ideal des Sozialismus oder an den konkreten Anforderungen des dortigen Klassenkampfes.
Literatur:
Balasopoulos, A. & Boer, R. (2022): Socialism, Communism and Concrete Marxism. In: International Critical Thought, Jahrgang 12. Ausgabe 4. S. 501-516.
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