⋄ In der Debatte um den Imperialismus steht zunehmend die Rolle mittelgroßer Staaten im Fokus. ⋄ Mit dem Subimperialismuskonzept beschriebt Ruy Mauro Marini die Entwicklung Brasiliens seit den 60er Jahren. ⋄ Rodrigo Luiz Medeiros da Silva belegt mit einer Reihe ökonomischer Daten, dass das Subimperialismuskonzept das gegenwärtige Brasilien nicht mehr adäquat beschreibt. ⋄ Der Beitrag erinnert daran, dass einmal stimmige Konzepte durch Marxist*innen immer wieder neu überprüft werden müssen. |
Die Debatte um den Charakter des Imperialismus ist im Moment voll entfacht. Die jeweiligen Antworten führen zu unterschiedlicher Positionierung in internationalen Konflikten. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob Länder außerhalb der westlichen kapitalistischen Zentren imperialistisch sind oder sein können. Eine in Südamerika populäre marxistische Theorie ist die des Subimperialismus von Ruy Mauro Marini (näheres hier). Rodrigo Luiz Medeiros da Silva untersuchte in den Latin American Perspectives verschiedene ökonomische Parameter Brasiliens im Hinblick auf die Vorhersagen Marinis. Er kommt zu dem Schluss, dass die empirischen Daten gegen die Subimperialismus-Theorie sprächen.
Das Subimperialismuskonzept Marinins
Es war für die Linke ein Schock, für die Rechte ein Wunder. Nach Jahren der Stagnation industrialisierte eine Militärregierung in den 60er Jahren mit Freihandelsreformen und Unterdrückung der Arbeiter*innenorganisationen die brasilianische Wirtschaft in kurzer Zeit. Die klassischen linken Unterentwicklungstheorien – ob marxistisch oder bürgerlich – gingen davon aus, dass der westliche Imperialismus die kapitalistische Peripherie in ewiger produktiver Rückständigkeit behalten würde. Sie sprachen sich für protektionistische Maßnahmen aus und schienen durch die Entwicklung Brasiliens widerlegt.
Ruy Mauro Marini versuchte, die brasilianische Entwicklung durch das Konzept des Subimperialismus zu erklären. Die Grundlagen legte er 1967 in „Dialektik der Abhängigkeit“ dar. Der einheimische Markt in Brasilien sei, wie es die klassische Unterentwicklungstheorie besagte, nicht in der Lage, die Nachfrage für eine industrialisierte Ökonomie zu schaffen. Vielmehr habe die Militärregierung durch die Zwangsmodernisierung der Wirtschaft mitsamt Unterdrückung der Arbeiter*innen einen relativen Produktionsvorsprung vor den Nachbarländern gewonnen. Dadurch könnten sie Waren zu günstigen Konditionen in diesen handeln und diese in eine imperialistische Abhängigkeit binden. Da die Produktionsanlagen jedoch noch aus den USA und Europa stammten, Brasilien also von den Zentren abhängig blieb, sprach Marini nur von einem Subimperialismus.
Der breitere Rahmen für Marinis Imperialismuskonzept war dabei Rosa Luxemburg. Nach ihr würde das Kapital dauerhaft mehr Reichtum akkumulieren als es Nachfrage schaffe. Dadurch entstünden Unterkonsumtionskrisen. Diesem könne das Kapital nur dadurch begegnen, dass es bisher nichtkapitalistische Sphären inkorporiere und Waren exportiere. Da alle entwickelten kapitalistischen Länder hierzu gezwungen seien, käme es zu globalen Aufteilungskonflikten.
Für Brasilien würde dieses Modell auf geringer Stufe zutreffen. Da – die Sklaverei in den Hinterköpfen – viele Landarbeiter*innen und ehemalige selbstständige Bäuer*innen als Arbeitskräfte dem brasilianischen Kapital zur Verfügung gestanden hätten, waren die Löhne äußerst gering. Brasilien hätte von sich selbst aus somit keine Nachfrage für eine entwickelte Produktion generieren können. Einzig die Produktion von Luxusgütern für die Bourgeoisie sei zeitweilig profitsichernd.
Empirische Daten gegen das Subimperialismuskonzept
Da Silva hält das Konzept Marinis für logisch konsistent. Es müsse jedoch auch mit den empirischen Daten im Einklang stehen. Nach Marini müsste der Produktionssektor immer weiter zunehmen. Tatsächlich stieg der Anteil der Industrie am Bruttosozialprodukt bis 1985 – dem Ende der Militärdiktatur. Danach allerdings wich der primäre immer weiter dem tertiären Sektor, bis 2015 nur noch reichlich 22% ausmachte; ein Wert wie 1941.
Weiter müsste nach Marini das Volumen der Exporte von Endprodukten immer weiter zunehmen, da der einheimische Markt keinen Absatz böte. Auch dies trifft nur bis 1985 zu. Danach stagnierte der Export von Fertiggütern und sank ab 2006 rapide, während synchron Rohstoffe vermehrt exportiert wurden. Zudem sei der Anteil an Exporten am Bruttosozialprodukt seit 50 Jahren relativ stabil und nicht wie angenommen, wachsend. Schwankungen erfolgten ähnlichen den entwickelten Ländern.
Zuletzt hätte nach Marinis Theorie der Export vordergründig in wenig entwickelte Nachbarländer erfolgen müssen. Dies sei aber nicht der Fall. Nur 22% der Exporte würden durch die Region realisiert. Das ist nur wenig wesentlich mehr als der Export in die USA (21,3%) und nach Europa (17,9%). Weitere 20% entfielen auf Mexiko und Argentinien, die nur schwerlich als weniger entwickelt interpretiert werden können.
Zusammenfassung
1985 stürzte die Militärdiktatur in Brasilien über die galoppierende Inflation, welche aus den Widersprüchen der sektorial und regional sehr ungleich entwickelten Wirtschaft erwuchsen. Da Silva zeigt, dass das Subimperialimuskonzept Marinis heute nicht mehr funktioniert. Bis 1985 scheint es jedoch haltbar. Aus der Geschichte können einige Erkenntnisse im Hinblick auf Imperialismusanalysen gezogen werden:
1. Imperialismus ist ein dynamisches Prinzip. Länder behalten ihre Stellung nicht auf Ewigkeiten. Nach Phasen der Exportorientierung folgen Phasen der Normalisierung.
2. Eine Wirtschaftspolitik, die zur Exportorientierung dauerhaft innere Widersprüche in die Höhe treibt, hat keine Beständigkeit.
3. Imperialismus ist ein globales Phänomen. Der Import von Produktionsmitteln aus den Zentren und der Export von Fertigprodukten in die Peripherie, schafft ein neues Verhältnis zwischen Zentren und Peripherie, welches das Gesamtsystem verändert. Zum Beispiel können sich entwickelte Länder selbst ihre Märkte in der Peripherie schaffen.
4. Das Verhältnis von ausländischem Kapital in Brasilien wurde aus der Analyse außen vor gelassen. Für die Erklärung eines modernen Imperialismus muss dieses jedoch berücksichtigt werden.
5. Imperialismus ist nicht allein ökonomisch bestimmt. Der Einfluss sozialdemokratischer und liberaler Regierungen, sowie die Härte von Klassenkämpfen spiegeln sich in den ökonomischen Daten wider. Die Regierungen Lulas beispielsweise bilden sich sehr klar auch in den ökonomischen Daten ab.
Da Silva legt den Finger in die Wunde, dass einmal wahre Konzepte immer wieder neu überprüft werden müssen. Es soll jedoch Marinis Werk nicht schmälern, dass in Brasilien neue Realitäten entstanden sind. Es ist ein wichtiger Aspekt marxistischer Theorie, dass diese nicht über der Welt steht, sondern dass diese verifiziert oder falsifiziert werden kann. Es stellt sich abschließend die Frage, ob Brasilien nun ein imperialistischer Staat oder nicht ist und welche Besonderheiten den brasilianischen Weg auszeichnen. Das Ziel einer solchen Analyse bleibt die Entfaltung der Klassenkämpfe gegen das Bolsonaro-Regime.